Deutsche Zusammenfassungen Städtebauwelttag 1960
s. 66
Der Städtebauwelttag 1960 wird am 8. November in San Juan, Hauptstadt der Insel PortoRico, stattfinden.
Zahlreiche Bauwerke und voraussehende Pläne kennzeichnen die Tätigkeit der Bauverständigen und der Architekten von Porto-Rico.
Der örtliche Städtebau bleibt eng in Verbindung mit der in den Vereinigten Staaten modernen Architekturbewegung und bietet ein gültiges Vorbild.
Ausser einem ausgezeichneten Strassennetz sind zu erwähnen: Staatsgebäude (Obefhofgericht, Nebengebäude des Kapitols, Krankenhaus im Bezirke von Ponce, Markthalle, Hochschulen, Parzellieren von Rio Piedras), die Kornmühlenanlagen auf der nördlichen Küste und die Hotelzone von San Juan (mit dem bekannten “ Caribe Hilton ” Hotel, Architekten Oswaldo Toro, Miguel Ferrer jr., Luis Torregosa, Karl-Heinrich Werner und Harold Eliot Leeds).
Hieraus darf man annehmen, dass die Kundgebungen des Städtebauwelttags sich in einer günstigen Stimmung abrollen werden. 1949 von Carlos Maria de la Paolera gegründet, soll die Tagung direkte Kontakte zwischen Fachmännern fördern. Seitdem hat sie von Jahr zu Jahr ihre Tätigkeit glücklich verfolgt, sowie ihren Einfluss erfolgreich ausgedehnt.
A. Sartoris
Die Neue Stadt (AICA) Brasilia, die neue Stadt von Mario Pedrosa
S. 74
In der Evolution der Stadt bedeutet Brasilia heute den Endpunkt. Mario Pedrosa vermittelt einen kurzen geschichtlichen Überblick von der griechischen Polis über die Gemeinde des Mittelalters, der Renaissance bis zur heutigen neuzeitlichen Stadt und zeigt, dass die Stadt als solche bis zu ihrem letzten Stadium in jeder Epoche eine regelmässige Entwicklung durchgemacht hat, die heute gekrönt wird durch die grossartige Verwirklichung von Brasilia. Der Aufbau dieser Stadt von 500 000 Einwohnern in einer öden, ja wilden Gegend, die weit entfernt ist von jeglicher Zivilisation, ist vielleicht die vollendetste und kühnste Formel unserer Zeit. Ferner beleuchtet Mario Pedrosa die Rolle dieser neuen Stadt in der Entwicklungsgeschichte des brasilianischen Landes. Den Pionieren wurden bisher keine Richtlinien für die Bebauung bestimmter Gebiete gegeben und so erschöpfen sie durch unaufhörliche Bearbeitung des Bodens bald dessen Fruchtbarkeit. Brasilia will gegen diese Art von Kolonisation ankämpfen. Unbebaute Gebiete im Zentrum des Landes, um die neue Kapitale gelegen, sollen in wissenschaftlicher Gebietsplanung und geregelter Neuorganisation erschlossen werden. Brasilia wird deshalb auch eine vollständige Reform des Landes in sozialer und kultureller Hinsicht mit sich bringen. Schlussendlich kommt der Verfasser auf die Bedeutung von Brasilia als Synthese der Künste zu sprechen und als Sinnbild der höchsten Kreation unserer Zivilisation.
Architektonische und städtebauliche Elemente im Plan der Stadt Brasilia von Sir William Holford
S. 75
Es gibt zwei Methoden, um ein Gebiet zu bebauen: entweder lässt man einen bereits vorhandenen Stadtkern sich den bestehenden Strassen entlang ausbreiten oder aber eine neue Stadt wird von vornherein auf eine bestimmte Grösse geplant. Brasilia hat sich dieser zweiten Lösung angeschlossen wie CHANDIGARH, ist jedoch durch seine Grösse einzigartig in der Welt.
Das besondere Merkmal des Planes von Lucio Costa besteht darin, dass sich die Stadt vom Zentrum aus entwickelt. Die grossen Parkanlagen und Grünplätze sind nicht in das Stadtinnere einbezogen, sondern um die Stadt herum gelegt worden. Gewiss wurden früher schon ähnliche Versuche gemacht, z.B. in Versailles oder Washington; für eine Stadt von über einer halben Million Einwohner jedoch wurde ein solches Projekt noch nicht verwirklicht.
Der Plan von Brasilia ist nicht nur ein Zusammenstellen kleinerer Einheiten, er zeigt vielmehr eine komplexe Struktur, wie man sie ähnlich in der Tierwelt findet: Zellen bilden Organe und verschiedene Zirkulationssysteme.
Da die Grösse der Stadt auf eine halbe Million Einwohner geplant ist, sollen, sobald diese Ziffer überschritten wird, Satellitenstädte entstehen, die von der Hauptstadt klar getrennt sein werden. Brasilia beweist, dass der Gesamtplan einer Stadt nur dann ausgeführt werden kann, wenn deren Grösse von Anfang an festgelegt wird, d.h. sie sich also nicht unbegrenzt und unendlich ausdehnen kann.
Stadtplanung unter nichtvisuellen Aspekten von Richard J. Neutra
S. 77
In prähistorischer Zeit haben die Menschen in vollkommener Anpassung an die Natur gelebt. Später siedelten sie sich an und die Stadt als Lebensraum hat immer mehr an Bedeutung gewonnen. Die heutigen Städte sind, trotz aller Versuche, eine Dezentralisierung zu erreichen, viel zu übervölkert. Es ist deshalb nicht erstaunlich, wenn eine stets wachsende Pathologie in unseren Grossstädten festgestellt werden muss. Diesen Zuständen Abhilfe zu schaffen durch das Herumexperimentieren an den alten Städten ist eine Utopie. Architekten und Städtebauer sollten sich bewusst sein, dass künftige Stadtplanung nicht nur bedeutet Lebensraum, sondern Raum zum Überleben zu schaffen.
Es gilt, dem Menschen wieder zumutbare gesunde Lebensbedingungen zu geben. Nur unermüdliches Studieren aller Lebensfragen, wie es seinerzeit die Humanisten der Renaissance, wie es Leonardo da Vinci betrieb, kann hier zum Erfolg führen.
Stadtplanung sollte nicht nur auf statischen und geometrischen Kenntnissen aufgebaut sein, das physiologische Empfindungsvermögen der Menschen muss ebenfalls berücksichtigt werden. Ein harmonisches Zusammenspielen aller dieser Faktoren ist daher unerlässlich, um Städte zu kreieren, die den natürlichen Lebensbedürfnissen der Menschen unserer heutigen Zivilisation entsprechen. In Brasilia haben diese Ideen ihre Verwirklichung gefunden.
Die Dynamik der Stadtstrukturen von Bruno Zevi
S. 78
Die Struktur der Städte passt sich der heutigen Lebensweise ihrer Bewohner nicht mehr an.
Es muss deshalb ein neuer Ausgleich gefunden werden zwischen Stadtstruktur und der Abwicklung modernen Gemeinschaftslebens. Von Le Corbusier bis Gropius haben alle Meister der modernen Architektur künstliche Städteorganismen gebildet, die sich betreffend Struktur und Urbanismus noch ganz an die Städte der Vergangenheit anlehnen. Die seinerzeit klaren Prinzipien der damaligen modernen Architektur sind jedoch unter den heute veränderten Lebensbedingungen nicht mehr haltbar. Man kann deshalb von einer momentanen Krise sprechen, da sich die Architektur von den bisher bekannten Formen loslöst, immer freier und dynamischer wird.
Die moderne Stadt muss Vitalität besitzen.
Indem Planung, Architektur der einzelnen Bauten, wie auch die Verkehrsanlagen dynamisch gestalte^ werden, versucht man dies zu erreichen. Jedoch zeigt sich, dass so willkürlich geplante Städte ein viel zu freies, zu aufgelockertes Gesamtbild aufweisen. Es fehlt das Unterscheidungsvermögen, den einzelnen Gebäuden ihren entsprechenden Wert, ihre Wichtigkeit zuzumessen.
Alle diese Probleme müssen noch gelöst werden, bevor von einer wahren Übereinstimmung von Architektur und Städtebau gesprochen werden kann.
Kunstwerke und Monumente in der modernen Stadt von Alberto Sartoris
S. 79
Urbanismus ist nicht nur mit Architektur und Kunst, sondern auch mit Technik, Nationalökonomie und Soziologie eng verknüpft. Die
Berücksichtigung dieser verschiedenen Aspekte bei der Stadtplanung ist somit unumgänglich.
Erste Aufgabe wird sein, eine rationelle Raumaufteilung des zu bebauenden Bodens vorzunehmen, um eine unbeschränkte und ungeordnete Ausdehnung der Stadt zu verhindern.
An zweiter Stelle kommt das Festlegen eines Zentrums von Behörden- und Administrationsgebäuden sowie anderer öffentlicher Bauten, das einen lebendigen Stadtkern bilden wird. Ferner ist die Gestaltung von Plätzen und Grünflächen in Betracht zu ziehen, die sich entsprechend den öffentlichen Bauten gruppieren werden. Daraus ist leicht ersichtlich, dass den Kunstwerken und Monumenten in der neuen Stadt von vornherein ihr Platz zugewiesen wird. Ihre Aufgabe ist nicht nur dekorativ zu wirken, ihr ideeller Wert, ihr geistiger Gehalt sind vor allem von Bedeutung, und ihre Lage wird bestimmt durch die geographische Struktur und schlussendlich durch das Strassennetz und Verkehrssystem einer Stadt.
Kunst und Erziehung von Lucio Costa
S. 81
Auf den Gebieten der Musik, der bildenden Künste und der Literatur ermöglichen neue Techniken, z.B. der Tonaufnahmen und Farbreproduktionen, ein immer breiteres Publikum zu erreichen. Ein Publikum, von dem jedoch nur eine Minderheit auf stetiger Suche nach Neuerscheinungen ist; die grosse Mehrzahl besitzt keine ausreichende Bildung und ist daher unfähig, die Kunstwerke der heutigen Zeit zu verstehen.
Man darf nicht hoffen, das Problem durch ständige Vermehrung der künstlerischen Produktion zu lösen — es gibt leider schon zu viele mittelmässige Künstler — vielmehr sollte in kultureller Hinsicht das Erziehungsund Unterrichtswesen von Grund auf geändert werden. Die Aufgabe wäre es, Kindern von früh an zu lehren, die Kunst als normale Lebensäusserung zu betrachten. Aber nicht nur der Jugend in den Schulen, sondern auch den Arbeiterkreisen sollten kulturelle und künstlerische Bildungsmöglichkeiten durch die Fabriken, Baustellen etc. geboten werden.
Nur auf diese Weise kann mit der Zeit die heute existierende scharfe Trennung zwischen Künstler und arbeitendem Volk — hervorgerufen durch die immer grösser werdende Industrialisierung — überbrückt werden. Die industrielle Planierung sollte eine aktive Mitwirkung des Arbeiters bei der künstlerischen Formgestaltung vorsehen; es wäre dies der erste Schritt zur Synthese der Künste.
Lucio Costa sieht kaum eine wahre Synthese der Künste in unserer Zeit bevor die allgemeine Industrialisierung nicht ihre volle Blüte erreicht hat. Es ist eine natürliche Entwicklung, wenn bis dahin die Kunst eine gewisse Zeit in den Hintergrund tritt. Sie wird erneut und auf breiterer Basis wieder aufleben, denn Kunst wird immer eine normale Lebensäusserung sein, was uns somit zu der Hoffnung berechtigt, dass sie solange wie der Mensch selbst leben wird. Aufgabe bewusster Künstler ist es, diese quasi “ schöpferische Pause ” nicht allzulange dauern zu lassen.
Synthese der Künste und plastische Einheiten von A. Bloc
S. 82
Die Begründer der modernen Architektur bekannten sich alle durchwegs zu den schlichten Formen; sie suchten die Verunstaltung ihrer Werke durch geschmacklose Dekorationen zu vermeiden.
Die Vollkommenheit der Proportionen, ausgewogene Verhältnisse von Volumen und Masse sind die Basis jeder guten Architektur und an sich ausreichende Faktoren, ohne dass die Hinzuziehung weiterer Künste erforderlich wäre. Dennoch muss zugegeben werden, dass in gewissen Fällen Farbe und Plastik einen guten Beitrag leisten. André Bloc bespricht die verschiedenen Richtungen dieser dafür entwickelten Kunst und erwähnt die holländische Richtung des “ Stijl ” oder “ Neoplastizismus ” von Mondrian und Van Doesburg und u.a. die Experimente von Le Corbusier. Weiter kommentiert er einige dieser Versuche, eine Synthese der Künste
zu bilden, geht über zu Fernand Léger und lobt die Werke von Gropius und Saarinen auf diesem Gebiet.
Die Einbeziehung von Farbe und Plastik bei den modernen, sehr industrialisierten Bauten verlangt unbedingt die enge Zusammenarbeit von Künstler und Architekt. Beide müssen dabei eine gewisse Einschränkung ihrer Freiheit in Kauf nehmen, damit die gewünschte Integration der Künste verwirklicht werden kann.
Malerei und Plastik in Verbindung mit Architektur und Städtebau von Meyer Shapiro
S. 84
Warum findet man Malerei und Plastik so selten bei den Projekten moderner Architekten? stellt sich Meyer Shapiro die Frage. Die antike Kunst hat ihre Werke in die Planung miteinbezogen. Weshalb verwendet man heute nicht mehr Malerei und Skulptur in der Architektur? Liegt es an der Ästhetik der modernen Architektur? Da offensichtlich ein Zwiespalt zwischen dem Geschmack des Publikums und der Ausdrucksweise der Künstler besteht, kann man sich tatsächlich fragen, ob es künftig möglich sein wird, sowohl die bildenden Künste der Architektur einzuverleiben, wie eine Einheit zu bilden zwischen dem kollektiven und individuellen Schönheitssinn. Wird sich überhaupt eine Kunst entwickeln können, ohne die Übereinstimmung von Glaubens-und geistigen Werten bei Künstler und Publikum? Interessant wäre zu wissen, ob in unserem heutigen Gesellschaftsleben eine sich in den wesentlichen Punkten nähernde Weltanschauung vorherrscht, die ja eigentlich die Grundlage für die Entwicklung einer einheitlichen Kunst bildet. Die moderne religiöse Kunst oder die Wandmalereien der mexikanischen Hochschulen scheinen von diesem Gesichtspunkt aus besehen eher Vorstufen als schon erreichte Höhepunkte zu sein.
Die modernen Städte werden allein durch den Staat gegründet. Wird es den bildenden Künsten möglich sein, sich der staatlichen Tendenz zu entziehen, die Künste unter Kontrolle zu halten und sich ihrer als propagandistische Ausdrucksmittel zu bedienen? Ist die Integration der Künste unter staatlichem Einfluss mit dem Bedürfnis der Kunst nach Ausdrucksfreiheit zu vereinbaren? Dies sind einige Fragen, die sich ergeben im Hinblick auf das Thema “ die moderne Stadt als Synthese der Künste
Die Architektur als dominierende Kunst in der Stadt von Raymond Lopez
S. 84
Raymond Lopez bespricht die Bedeutung der verschiedenen Künste wie Urbanismus, Architektur, Skulptur, Malerei und Musik, die beim Aufbau einer Stadt massgebend beteiligt sind und kommt zu dem Schluss, dass die Architektur dabei ohne Zweifel die wichtigste Rolle spielt.
Interessant ist bei seiner Betrachtung, dass er nicht nur Gebäude als Architektur hält, sondern auch den Raum in der Natur, in dem eine Stadt aufgebaut wird, Bevölkerungsmassen, die Plätze, Stadien und Theater beleben sowie Fahrzeuge in Bewegung oder stationiert, die dem Strassenbild ein eigenes Gepräge geben. Selbst die Konstruktionen der Ingenieure wie Brücken, Strassen etc. und auch die Parkanlagen und Grünplätze sind für ihn ein Teil der Architektur einer Stadt.
Endlich betont Raymond Lopez besonders die Bedeutung der “ negativen ” Architektur, d.h. des leeren Raumes in der Stadt wie Plätze, Sportanlagen und vor allem der Zwischenräume, die einzelne Gebäude trennen.
Tradition und Materialien in der Architektur von Giulio Carlo Argan
S. 85
Es wäre ein Irrtum zu glauben, die moderne Architektur stelle alle Formen und Techniken auf eine neue Basis. Unter einem solchen Aspekt betrachtet, könnte die moderne Kunst
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Deutsche Zusammenfassungen nicht mehr als Kunst angesehen werden. Die Erfahrung zeigt immer wieder, dass die Werke grosser Künstler umso origineller sind, je besser diese die Kunst der Vergangenheit kennen. Ein Kunstwerk kann jedoch nur als ein solches in den Reihen grosser historischer Werke seinen Platz finden, wenn es etwas Neues zum Ausdruck bringt, eine “ Neuinterpretierung ” enthält. Dieser Zug ist ebenfalls in der Architektur anzutreffen, zeigt sich jedoch vor allem in der Neuheit der Materialien, was auf der Tatsache beruht, dass die Architektur mehr noch als die bildenden Künste von Organisation und den industriellen Techniken abhängig ist.
Bis vor kurzem haben die Architekten Materialien und Techniken verwendet, deren Ursprung aus der Vergangenheit leicht erkennbar ist. Heutzutage wird das Problem jedoch komplizierter: die Organisation der Arbeit, die Anwendung vorfabrizierter Elemente, scheinen eine deutliche Loslösung von den Methoden der Vergangenheit zu zeigen. Die Ausführung einer Konstruktion — selbst wenn sie durchaus nicht einfach ist — wird dadurch nichts anderes als eine Montage.
Damit die moderne Kunst einen entscheidenden Anteil in der geschichtlichen Entwicklung nehmen kann, sieht Giulio Carlo Argan die Lösung nur darin, jeden Versuch zu unterlassen, gewisse Techniken, oder noch schlimmer, alte Stile wieder aufleben zu lassen.
Ferner schlägt er die Ausarbeitung einer gründlichen Studie der alten Techniken vor, die quasi als Methodologie der Formenerfindung richtungsführend sein könnte.
Künstlerische industrielle Formgestaltung in der modernen Stadt von Gillo Dorfles
S. 86
Die Ästhetik der industriellen Formgebung umfasst heute nicht nur Kunsthandwerk und Haushaltinstallationen, sondern sogar grosse technische Strukturen, vorfabrizierte Bauelemente und in nächster Zukunft vielleicht den Wohnbau selbst. Kann daher gewissen durch die Industrie erzeugten formschönen Objekten ein künstlerischer Wert zugesprochen werden?
Da es vor allem industrielle Gegenstände sind, die in breitester Schicht in die Bevölkerung getragen werden, spielt Industrial Design eine enorme Rolle bei der Bildung des Publikumsgeschmackes. Das Industriemodell, serienmässig fabriziert, stellt sich heute neben das einmalig handwerklich geschaffene Kunstwerk. Gillo Dorfles sieht darin bereits den Anbruch einer neuen “ visuellen Zivilisation ”, die sich dank der durch Industrie und Gewerbe hervorgebrachten graphischen und plastischen Elemente entwickelt.
Eine gewisse Freiheit der Formgebung erlaubt heute in der Industrie nicht nur technische, sondern gleichzeitig künstlerisch formgestaltete Artikel herzustellen, was auch das Erfinden stets neuer und besserer Modeformen ermöglicht.
Wesentlich ist schlussendlich die Berücksichtigung dieser formalen Veränderung der Industrieelemente bei Projektierung und Planung der modernen Stadt (Brasilia kann hier als vorbildliches Beispiel dieser städtebaulichen Anpassung genannt werden), denn das Erscheinungsbild künftiger Städte wird eine Integration künstlerischer Schöpfung in die industrielle Technik sein.
Die Beziehungen zwischen Architekt und Ingenieur von Jean Prouvé
S. 87
Jede Sache, die gebaut wird, entstammt einer konstruktiven Idee. Das Material lässt diese Idee eine entsprechende Gestalt annehmen und in der Folge wird das Projekt ausgeführt.
Techniker und Spezialisten werden herangezogen und bearbeiten diese “ Idee ”. Der Architekt sowie der Industrielle benötigen allerdings für deren Verwirklichung die Mitarbeit von Ingenieuren. Freilich gibt es Ingenieure, die unbestreitbar grosse Architekten sind, wie man sich auch kaum vorstellen kann, dass heutzutage ein Architekt nur mehr reiner Stilist der Konstruktion ist. Jean Prouvé ist der Meinung, dass ein klarer Trennungsstrich zwischen Ingenieur und Architekt nicht mehr
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gezogen werden kann: beide Berufe überschneiden sich in vielen Punkten.
Im allgemeinen beschäftigt der Architekt eigene Mitarbeiter: der oder die Ingenieure, die er zu Rate zieht, verfügen ebenfalls über eigene Mitarbeiter und auch der Bauunternehmer hat seinen Mitarbeiterstab von den Ingenieuren bis zu den Arbeitern. Deswegen kommt es nur zu oft vor, dass diese drei Unternehmen gegeneinander kämpfen statt miteinander zu arbeiten. Damit ein reibungsloses Abwickeln der Zusammenarbeit gewährt werden kann, ist eine bestimmte Ranganordnung unter den ausführenden Organen unerlässlich. An ihre Spitze stellt sich der Architekt, gefolgt von den Ingenieuren, an dritter Stelle seien die Zeichner genannt und schlussendlich der Unternehmer. Diese Reihenfolge scheint selbstverständlich zu sein. Man muss sich aber vor Augen halten, dass die Architektur das einzige Gewerbe ist, dessen Werke sich nur durch die enge Zusammenarbeit verschiedener Unternehmen ausführen lassen.
So erklärt sich auch, warum die Architektur hinter den raschen Fortschritten der modernen Industrie zurückgeblieben ist.
Die Bedeutung der Kunst in der Erziehung von Sir Herbert Read
S. 87
In fast allen Ländern der Welt ist man sich heute der Bedeutung der Kunst in der Erziehung bewusst. Der psychologische Aspekt, auf den Herbert Read hier näher eingeht, snielt dabei die grösste Rolle.
Die Entwicklung einer seelisch ausgeglichenen Persönlichkeit hängt von der Fähigkeit des Individuums ab, ein Gleichgewicht zwischen der Aussenwelt und seinem Gefühls- und Triebleben herzustellen. Die schöpferische Tätigkeit ist Seele und Geist ein grosser Helfer bei dieser Suche nach Anpassung an die Aussenwelt. Unser Mitteilungsbedürfnis hat einerseits die Sprache als Ausdrucksmöglichkeit und anderseits für Gedanken und Gemütsbewegungen des Unterbewusstsein die symbolische BildsDrache der Kunst in all ihren Varianten. Die Ausübung schöpferischer Tätigkeit kann deshalb die Entwicklung des Gefühlslebens entscheidend beeinflussen. Die Wichtigkeit der Kunst im intellektuellen Leben eines Volkes, ja selbst in Gewerbe und Industrie, ist daher unbestreitbar. Die bedeutendsten und glänzendsten Geschichtsperioden einer Zivilisation waren immer diejenigen, in denen die Kunst sich zur vollen Blüte entfalten konnte.
Die Anwendung der Recherche Opérationnelle von François Le Lionnais
S. 88
Das Leben verlangt von uns, ständig Entscheidungen zu treffen, Entschlüsse zu fassen, sei es in privatem oder geschäftlichem Bereiche.
Das Treffen einer Entscheidung wird umso schwieriger, je komplizierter die Probleme sich stellen. In den meisten Fällen treten folgende Schwierigkeiten auf: eine zu grosse Anzahl Faktoren müssen in Erwägung gezogen, eine Fülle entmutigender Bedingungen sollten eingegangen werden oder aber die ungenügende Kenntnis von gewissen Elementen gestaltet das Entschlussfassen problematisch. Ferner sieht man sich oft vor Situationen gestellt, in denen der Zufall eine grosse Rolle spielt. Dabei kann als Zufall auch der entgegengesetzte Wille, die verschiedene Meinung anderer Personen gelten.
Wichtige Entscheidungen überliess man früher Leuten von besonderer Intelligenz und Lebenserfahrung, die sich in schwierigen Situationen schon oft bewährt haben. Heute gibt es jedoch eine spezielle Wissenschaft, die Recherche Opérationnelle, die bei grossen Entscheidungen herangezogen werden kann und die auf wissenschaftlicher Basis alle Möglichkeiten berechnet. Der Ursprung dieser modernen Wissenschaft geht zurück auf den letzten Weltkrieg. Ein grosser Physiker namens Blakett (Nobel-Preis) hat für die Verteidigung der Stadt London gegen die Nazi-Bombardierungen zum ersten Mal die Recherche Opérationnelle angewendet. Heute wird in jeder Grossindustrie, in jedem bedeutenden Staat diese Wissenschaft bei der Bearbeitung
komplizierter Probleme herangezogen; ja sogar beim Städtebau hat sich seit einiger Zeit die Recherche Opérationnelle durchgesetzt.
In der Stadt la Rochelle in Frankreich zum Beispiel wurden damit hervorragende Resultate erzielt. Moderne Städteplanung wird künftig undenkbar ohne die Recherche Opérationnelle sein.
Heil und Unheil der Landesplanung H. R. Von der Mühll
S. 89
Städtebau und Landesplanung übersteigen die Möglichkeiten des Einzelnen weit, denn wo es um die Gesamtheit der technischen, sozialen, wirtschaftlichen und psychologischen Belange geht, wird die Mitwirkung ganzer Gruppen beansprucht. Dabei sind die Bedürfnisse der Menschen einem dauernden Wechsel der Ansichten unterworfen, was auch auf Grund ungenügenden Wissens über die “ typischen ” Ansprüche des Menschen und die daraus folgende sog. typischen Lösungen geschrieben worden sein mag.
In unserer Zeit mit stets neuen Erfindungen auf allen Gebieten sind die Umwälzungen derart rasch, dass bei den ungeahnt offenstehenden Möglichkeiten jegliche Festlegung einen Rückschritt bedeutet.
Nun wächst aber die Bevölkerung auf dem Erdball in unglaublich beschleunigtem Tempo, sodass eine Verstädterung aller Länder unabwendlich ist. Daraus folgt, dass Städtebau und Landesplanung zu einer beinahe tragischen Notwendigkeit wird, wobei mir die Erfahrensten in Szene treten sollten. Was geschieht aber? Da von gewissen nicht ungenialen Geistern dieses ausgesnrochen wissenschaftlich-soziologische Gebiet mit prophetisch-träumerischen Schlagwörtern bestrichen wurde, hält sich nachgerade jedermann, wie damals bei der Psvchanalyse, tiefgründigster Einsicht fähig. Die Wissenschaft wird zur Liebhaberei.
Die 1933 von den CI AM veröffentlichte “ Charte d’Athènes ” hatte auf Grund sorgfältig ausgearbeiteter Untersuchungen von 30 Grosstädten die Grundsätze modernen Städtebaus festgelegt. Gegenüber den Anlagen in Schachbrettform oder mit sternförmig angelegten Perspektiven sollte die Stadt organisch-funktionell behandelt werden. Doch auch bei diesen Anlagen fehlte, wie bald festgestellt wurde, die Seele, das Herz der städtischen Gemeinschaft.
Dieses pulsierende Leben in ein Stadtgebilde zu bringen, dazu gehört — das beweisen am besten die alten italienischen, spanischen oder französischen Städte — das Wesen einer ausgesprochenen, durch Jahrhunderte durchgebildeten geistigen, religiösen und staatsbürgerlichen Kultur.
Was soll man zu den “ ex nihilo ” geschaffenen Stadtanlagen neuester Zeitdenken? Genial vorausschauende Planung oder übersteigerter Ehrgeiz einer einzelnen Persönlichkeit unter Missachtung wirtschaftlicher Gegebenheiten und kultureller Möglichkeiten? Das aus dem rechten Winkel geschaffene Chandigarh und das libellenflügelige Brasilia heute schon zu beurteilen, dürfte verfrüht sein. Dagegen kann die australische Hauptstadt Canberra, 1911 vom amerikanischen Architekten Griffin entworfen, mit ihren kaum 40 000 Einwohnern nach beinahe einem halben Jahrhundert den Beweis erbringen, dass die “ natürlich gewachsenen ” nachbarlichen Millionenstädte Melbourne und Sydney trotz weniger gewollter Anlagen eigentlich besser gedeihen. — Menschliche Verwegenheit bringt Unheil.
Nun gibt es aber auch die grossen Planer, die ohne Publizistik, aber mit desto ernsteren Methoden arbeiten. In erster Linie sei Doxiadis genannt; er beherrschte mit 35 Jahren die Landes- und Regionalplanung von ganz Griechenland, besass schon 1948 von sämtlichen Städten fertige Ortspläne, wurde nach Australien, Iran und Irak und weitherum berufen. Er entwirft mit seinen ca. 400 Mitarbeitern Anlagen grössten Stiles. Dann der kürzlich verstorbene Abercrombie, dessen Gebiet sich über 5 städtische Grossplanungen in England erstreckte; van Eesteren mit seinen Grossanlagen in Holland; Aalto mit grossartigen Stadtplanungen in Finnland; Sert (der Verfasser von “ Can our cities survive? ”)
mit riesigen Industrie- und Wohnstädten in Amerika.
Wenn auch die Mustergültigkeit gewisser Anlagen feststeht (man denke z.B. an das von einer schweizerischen Grossindustrie beanspruchte Birrfeld im Aargau), so dürfte der Moment kommen, wo das letzten Endes nicht unbegrenzt zur Verfügung stehende Gebiet unserer europäischen Länder ausser dem Alpengebiet nicht nur verstädtert, sondern durch Überorganisierung der Landschaft vergeudet sein wird.
Bei der Belegung eines, wenn auch durch Zahlung erworbenen Areals, ist es bei noch so vollkommener Planung noch nicht getan, da Landesplanung Betreuung, nicht nur Verwendung bedeutet. Darüber hinaus müsste für jeden besetzten Quadratmeter Ersatz geschaffen werden durch eine vorläufig rechtlich noch nicht erfasste KOMPENSIERUNG.
Denn mit der wirtschaftlichen Durchorganisierung und Ausbeutung des Bodens, der Steigerung des Potentials, der Bereicherung und sozialen Besserstellung der Bewohner ist die Aufgabe des Planers nicht erschöpft.
Es sind dies bloss materielle Güter, für welche letzten Endes das Land ausgenützt wird, ohne für Ersatz an allgemein zugänglichen und allgemein gültigen Werten (Reservate, Landschaft, Naturschönheiten usw.) besorgt zu sein.
Felix Candella von A. Sartoris
S. 92
Um das mehrwertige Werk Felix Candelas zu verstehen, ist es nicht unbedingt notwendig, wie es bis jetzt üblich war, das Gebiet der neuen Architektur in zwei Welten zu teilen.
Heute legt man noch nicht Wert genug auf das eigenartige Satut, welches Felix Candelas ausserordentliche Verwirklichungen gefördert hat. Auch lässt man ihren heutigen Einfluss allzusehr bei Seite. Nach Beispiel jedes guten spanischen Architekten zeichnet Candela nicht nur Pläne. Er berechnet sie aber noch und überdies erbaut sie selbst.
Grosser Techniker und Plastiker der leichten Gewölbe, der aus Eisenbeton abgeplätteten Gestelle, der dünnen, rund gebogenen Hüllen, der kühnen Kreuzgewölbe, der vielfachen fächerartigen schief stehenden Teile, der Deckungen, mit umgelegten Schirmen der Kuppeln mit vier-und dreieckigem Plane, der Strukturen auf Pfeilern, der zusammengestellten Einrichtungen und der bewegbaren Einschalen, hat Candela die hyperbolischen Paraboloide und die geraden Erzeugenden meistens in seinen Werken genutzt.
Marcello Nizzoli von A. Sartoris
S. 102
Durch Eingebung der Methoden, welche früher den differenzierten Rythmus der nacheinanderfolgenden Neuerungen gefördert haben, hat Marcello Nizzoli eine unter den schöpferischen Methoden der heutigen Neuerungen erfunden.
Vor einigen zwanzig Jahren hat Nizzoli mittelländische Erfindungen hervorgebracht, welche für die heutigen Baumeister gültig bleiben. Wahrscheinlich finden wir uns abermals vor einer Architektur, welche ihre ursprüngliche Kraft, ihren anfänglichen Schwung, die Neuheit und die Fülle ihres erneuernden Grundwesens ganz und voll behält. Nichts ist so schwer wie ein ästhetisch durchgebildetes Werk zu veranschaulichen, indem man sich an die Hilfsquellen der Wissenschaft und der Vernunft allein wendet.
Nizzoli aber, welcher daran gewöhnt ist willkürliche Zufälle beiseitezulegen, beweist, dass die Grundsätze des Funktionsbaues sich ihrer Grundbedingungen nicht begeben können. Immer mehr bemühen sie sich, aus Architektur einen erbauten Raum zu machen, daher bleiben sie tief zeitgemäss.
Otto H.Senn, Architekt BSA, SIA, Basel s. no Otto Senn hat seinen Standort bereits in den Entwicklungsjahren des neuen Bauens bezogen. Sein damaliges Werk und seine heutigen Arbeiten sind in vorderster Linie formale und geistige Auseinandersetzung mit der Archi-
Deutsche Zusammenfassungen tektur. 1902 geboren, diplomierte er 1927 an der ETH bei Prof. Karl Moser und hat nach seiner praktischen Tätigkeit im Krankenhausbau (bei Dr. R. Steiger, 1928-1930) seine Studien im Ausland fortgesetzt. Aufenthalte in England und in den USA galten vor allem städtebaulichen Studien. Am CIAM-Kongress 1933 in Athen hat Senn zusammen mit Lönberg-Holm eine städtebauliche Untersuchung über Detroit gezeigt. Seit 1933 führt er sein eigenes Büro in Basel. Die kurzen biographischen Daten sollen lediglich zeigen, dass Otto H. Senn einer Generation angehört, welche noch die ersten Phasen der neuen Architektur — die bereits Geschichte geworden sind — miterlebt und mitbestimmt hat.
Gerade seine Bauten aus jener Zeit regen sehr zum Nachdenken an, ob und inwiefern wir Jungen fortgeschritten sind.
Es kann sich im folgenden nicht darum handeln, einen Œuvre-Katalog des Architekten zu präsentieren, sondern ich möchte versuchen, die Entwicklung in den verschiedenen Arbeiten aufzuzeigen. Es würde dem Wesen von Otto Senn widersprechen, wenn dabei allzuviel Gewicht auf seine Person als solche gelegt würde, versteht er es doch wie kaum ein anderer, stets nur dem Werk und damit der S.ache selbst zu dienen: eine seltene Eigenschaft in der heutigen Zeit, in der es üblich ist, dass sich der Architekt mit seiner Arbeit das eigene Denkmal setzt. Nur aus der ständigen, intensiven Auseinandersetzung mit dem, was Senn Architektur nennt — die immer wieder neue Erweckung des Inhaltes zur Form — ist Entwicklung möglich. Beim vergleichenden Betrachten seiner Bauten von 1934 bis zu seinen neuesten Projekten wird klar, wie sehr diese Arbeiten Auseinandersetzung mit den brennendsten Fragen sind.
Mit Fragen, die er auch in Aufsätzen und Ausstellungen zur Diskussion gestellt hat.
Ich folge in der Darstellung der Dreiteilung, in die sich die Hauptanliegen des Architekten Otto Senn gliedern.
“ Raum als Form ” lautet der Titel eines Aufsatzes, welcher 1955 im WERK erschienen ist. Senn versucht darin, die Entwicklung und das wechselnde Verständnis der Phänomens Raum seit dem “ neuen Bauen ” bis heute aufzuzeigen und stellt dabei vier Thesen auf, die einzeln dem zeitlichen Verständnis entsprechen und zusammen das Form-RaumProblem in seiner Gesamtheit beinhalten. Die erste These: “Das elementare architektonische Ausdrucksmittel besteht im Korrelat des greifbaren Volumens und des immateriellen Abstandes. Das Phänomen dieser wechselseitigen Bezogenheit nennen wir Raum. ” Senn demonstriert u.a. mit dem bekannten Strukturbild Theo van Doesburgs und mit dem Haus Schröder van Rietveld in Utrecht, wie damals die Freude am Spiel mit dem Volumen und der Hohlform in vorderster Linie der ästhetischen Auseinandersetzung stand. Die zweite These stellt fest, dass entsprechend der Veränderung der Raumvorstellung sich das Prinzip der Sichtbarmachung dieser Raumvorstellung ebenfalls ändert. Die dritte These fixiert bereits die unausweichliche Bezogenheit von Form und Aussage und die vierte These nennt das Problem von Form und Inhalt beim Namen: “Im Gefüge anschaulich gewordener Beziehungen stellt sich die Form dar als die Gestalt gewordene Verwirklichung des sozialen Verhaltens im Raum Behandelt der erste Teil des Aufsatzes das zeitgebundene abstraktformale Interesse, so beweist Senn im weiteren, dass dies heute nicht mehr möglich ist und nur jene Formen verbindliche Aussagen sind und damit Bestand haben, die als oberstes Prinzip “ das soziale Verhalten im Raum ” sichtbar machen. Dieser Aufsatz ist ganz nebenbei und wohl nicht zufällig Erläuterung zum eigenen Werk des Architekten. Vergleicht man seine ersten Bauten, bei denen vor allem die damals neue Architektursprache interessiert (Riehen: Spiel mit verschiedenen Kuben, Abb. 1 ; Binningen: ein “ ausgehöhlter ” Kubus, Abb. 4), mit dem Wohnhaus in St-Prex, so ist offensichtlich eine bedeutsame Strukturveränderung festzustellen. Das Vokabular, in den Zwanzigerjahren geschaffen, ist durchaus noch dasselbe. Die kubische Erscheinung gehorcht aber nicht nur einem abstrakt spielenden Formgefühl, sondern die aktuelle Bedeutung des soziologischen Faktors wird sichtbar. Er beruht auf der strukturellen Identität des
Raumes mit dem “sozialen Verhalten” der Bewohner. Bereits beim Wohnhaus in Gerzensee (Abb. 2,) aber noch deutlicher beim Wohnhaus in St-Prex, sind die Wechselbeziehungen von Individuum und Gemeinschaft, wie sie das Familienleben unabdingbar fordert, sichtbar akzentuiert.
Die Städtebau-Beispiele lassen eine ähnliche Entwicklung feststellen (vgl. Überbauung österleden mit Überbauung. Gellert-Quartier). Noch 1935 konnte Prof. Dr. Georg Schmidt in einer Besprechung des damals neuerstellten Wohnhauses an der St. Albananlage in Basel äussern : “ Die erste Frage bei der Errichtung von neuen Strassen und neuen Wohnungen sollte heute die Frage nach der Sonnenlage sein ”. Über das Gellert-Quartier sagte Gropius am CIAMKongress 1951, bei dieser Art Städtebau werde wohl auch ein Betrunkener noch seine Haustüre finden. Er wollte damit sagen, dass anstelle der ziffernmässigen Beziehung zum Haus bei gleichgerichteter Bauweise nun eben das taktische Gefühl wiederum funktioniere.
In den Zwanziger- und Dreissigerjahren galt das Hauptinteresse der Hygiene. Aber bereits 1954 schrieb Giedion (in Ein Jahrzehnt moderner Architektur) : “ Um den verloren gegangenen Kontakt zwischen dem Ich und dem Du, der das Wesen einer wirklichen Stadt ausmacht, wieder herzustellen, muss der Architekt etwas besitzen, das wir soziale Imagination nennen wollen ”. Dass Otto Senn über diese Imagination in hohem Masse verfügt, zeigt sein Werk.
Überbauung österleden (Seite 114): Die Wohndichte der bestehenden Zeilenüberbauung (88 m Baulänge, 27 m Bauabstand bezw. 25 m Abstand bei 57 m langen Zeilen) beträgt 650 Bewohner/ha (Ausnützungsziffer 1,9, überbaute Fläche 28 %). Das Projekt geht von einer relativ hohen Ausnützung aus.
Die siebengeschossige Reihenbebauung wird versetzt mit punktweise verteilten Hochhäusern von 12 Geschossen (bessere Besonnung, grössere Distanz zum Nachbarn; Beziehung jeder einzelnen Wohnung zum Landschaftsraum und vor allem zur zentralen Grünfläche mit dem Gemeinschaftszentrum). Die Erfüllung dieser Bedingungen ergibt in diesem Falle folgende Baudichte: Minimaler Abstand von Reihe zu Reihe 100 m, Ausnützungsziffer 0,9, überbaute Fläche 9,5 %, 300 Bewohner/ ha. Das weitmaschige System der Bebauung in Verbindung mit der Freifläche gliedert die funktionellen Zusammenhänge dieser Nachbarschaft zur städtebaulichen Ordnung.
Überbauung Hechtliacker in Basel (Seite 116): Hier spitzt sich das Problem des punktförmigen Wohnhochhauses zu. Gemäss Zonenplan ist die Überbauung mit zweigeschossigen Wohnhäusern vorgesehen.
Das nach Norden abfallende Terrain ist Bestandteil eines Grüngürtels, der die Erhebung des Bruderholzhügels (Einfamilienhäuser) von dichtbewohnten Quartieren der Ebene (viergeschossige, geschlossene Bauweise) trennt. Der Baumbestand tritt im Stadtbild markant in Erscheinung. Das punktförmige Hochhaus ist in diesem Falle die einzige Möglichkeit, das Terrain zu nutzen, gleichzeitig aber die Grünzone zu erhalten.
Nicht eine willkürliche Suche nach räumlicher Spannung, sondern nur die besondere städtebauliche Situation bestimmt die Wohnform.
Nebenbei sei erwähnt, dass die Unterhandlungen für die Baubewilligung seit sieben Jahren im Gange sind.
Beim Projekt im Wohnviertel des Geliert ist die Frage nach dem Prinzip der Gestaltung von Wohnquartieren aufgeworfen. Die Wohnbauten sind auf einen Kern von Gemeinschaftsbauten (Kirche, Schule und Läden) ausgerichtet. Kennzeichnend sind die Weitläufigkeit und Vielfalt der räumlichen Beziehungen: raupenförmig gegliederte Zeilen und Punkthäuser; Aussenräume, wo sich die Kinder auf der freien Fläche vor dem Hause zum Spielen treffen; Differenziertheit der einzelnen Wohnungen in Bezug zum Ganzen; Weiträumigkeit der parkartigen Umgebung; Aufbau einer Gemeinschaft anstelle beziehungsloser Einförmigkeit. Bei einer überbauten Fläche von 22 % ergibt diese gemischte Bebauung eine Ausnützungsziffer von 0,74 und eine Wohndichte von 260 Bewohnern/ha.
An den Projekten für den Bahnhofplatz und für ein Kulturzentrum im Stadtkern von Basel sind Senns Anliegen an zwei
Brennpunkten des Gemeinschaftslebens exerziert worden. Bei beiden ist — wie beim Geliert — der Raum zwischen den Baukörpern ebenso intensiv gestaltet wie die Baukörper selbst; der Platz wird bedeutende Mitte. Im Falle des Bahnhofplatzes: Empfangsraum und Verkehrsteiler; im Falle des Kulturzentrums: Agora. Veröffentlichungen und Ausstellungen zum Thema Städtebau: “Städtebau als Aufgabe des Architekten”, Gastvorlesung an der ETH, Winter 1959, “ Die Verkehrsgestaltung in der Berner Innenstadt”, (Schweiz. Bauzeitung, 2. Dez.
1950), “ Gedanken zur Gestaltung des Wohnquartiers ” (WERK, Okt. 1951), “Freifläche im Stadtbild” (WERK, Jan. 1954), “Die Stadt von morgen ”, (Ausstellung Schweiz.
Pavillon Interbau Berlin 1957).
Otto Senn hat einmal geäussert, die polaren Spitzen des Problems der “ Verwirklichung des sozialen Verhaltens im Raum ” seien der Städtebau einerseits und der Kirchenbau andererseits. Strukturell gesehen: im Städtebau von innen nach aussen und im Kirchenbau von aussen nach innen. Es ist das Verdienst von Senn, dass der evangelische Kirchenbau in den letzten Jahren eine Besinnung auf die Grundlagen erfahren hat. Anlässlich des Wettbewerbes für das Wasgenringschulhaus wurde im Programm gleichzeitig die situationsmässige Abklärung der Platzgestaltung mit der Kirche verlangt. Senn benützte diesen äusseren Anstoss, um zum ersten Male seine Vorstellungen über das Raumgefüge der reformierten kirchlichen Versammlung architektonisch zu formulieren.
Es sei vorweg genommen — Senn hat bis heute noch keine Kirche gebaut. Die Ablehnung seiner Vorschläge hat aber eine heftige und breite Diskussion ausgelöst. Die Resultate seiner Untersuchungen haben in fast allen Wettbewerbsprogrammen und in den neueren Projekten ihren Niederschlag gefunden.
Nachstehend sei sein theoretischer Beitrag erwähnt, der, als reine Apologetik gedacht, bereits Früchte trägt: “ Der protestantische Kirchenbau, Besinnung auf die Grundlagen ” (WERK, Februar 1952), “ Reformierter Kirchenbau gestern und heute”, (Schweiz. Bauzeitung 1954), “Die protestantische Tradition des Kirchenbaues ” (Beitrag zur Ausstellung “ Christliche Kunst ” im Kunsthaus Zürich 1954), “ Entwicklungslinien im reformierten Kirchenbau ” und “ Protestantischer Kirchenbau in der Gegenwart ” (Handbuch für Kirchenbau, CallweyVerlag, 1958), “ La construction d’église contemporaine ” (Bulletin du Centre protestant d’études, juin 1958).
Die Projekte wurden missverstanden. Senn hat das dazu benützt, um seinerseits das grosse allgemeine Missverstehen der Tradition des reformierten Kirchenbaues nachzuweisen und gleichzeitig die Gesichtspunkte der Erneuerung herauszuschälen. Er hebt die falsche Alternative Zentralbau/Längsschiff auf, weil sie sich nur auf die Form des Gehäuses bezieht. In “ Kirchenbau in der Gegenwart ” schreibt er selbst: “ Bestimmend für den Kirchenbau als Ort der Verkündigung sind: Die Formierung der Versammlung, der offene Bewegungsbereich, die Verhältnisse von Sicht und Hörsamkeit. ” Zur Entscheidung drängen diese Alternativen: a) Der Ort der Versammlung ist der Rahmen, der den Blick in ein Jenseits freigibt. Der Bereich der Versammlung wird unterschieden vom Podium als dem ausserhalb befindlichen Blickziel und eigentlichen Raum der Kirche, — oder der Ort der Versammlung ist selber der Raum der Verkündigung.
b) Die Versammlung ist als geschlossener Verband longitudinal gereiht, wobei der von hinten nach vorn gewendete, parallel geführte Blick der einzelnen auf eine Stirnwand trifft oder in die Ausbuchtung einer Apsis oder eines Chors dringt — oder die Versammlung ist in sich begegnende Gruppen gegliedert, die der Mitte zugewendet sind. Der unmittelbare Kontakt mit dem Geschehen wird hergestellt für Auge und Ohr, der einzelne hat ein Gegenüber.
c) Die Kanzel und der Altar befinden sich im gesonderten Bereich des frontalen Podiums — oder Kanzel und Altar sind einbezogen in den Bereich der Versammlung; sie finden Aufstellung auf dem Boden der Versammlung; die Kanzel ist der Ordnung des Gestühls eingefügt, der Altar bezeichnet die Mitte.
Otto Senn hat seine Entscheidung getroffen.
Die hier ausgewählten Projekte lassen eindeutig erkennen, welchem Teil dieser Alternative die Zukunft gehört.
Rolf Gutmann.
Die Ausstattung unserer Umwelt von Max Bill
S. 118
Mit Hilfe seiner Erfindungsgabe hat sich der moderne Mensch eine künstliche Umwelt geschaffen, welche ständigem Wandel unterworfen ist. Nach dem Gesetz von Ursache und Wirkung schafft sich die Gesellschaft aus neuen Möglichkeiten immer wieder neue Verhältnisse; aus den neuen Verhältnissen entstehen neuen Komplikationen, die der Mensch immer wieder zu überwinden sucht. So wächst unsere Kultur, wie ein Geflecht von BedürfnisOrdnung-Unordnung, hin zum Chaos. Trotz ihren grossen ordnenden Einzelfähigkeiten haben die Menschen als Gesamtheit es bisher nicht verstanden, diese chaotischen Einzelzustände zu überwinden. Im Gegenteil, der Umfang dieses Chaos ist in den letzten Jahren immer mehr angewachsen; es ist so herrlich ausgestattet, dass wir uns damit abzufinden beginnen. Es ist also höchste Zeit zu reagieren und unsere Umwelt so auszustatten, dass die Zukunft dem Chaos und seinen Nutzniessern nicht gehört.
Der schweizerische Schulbau gestern und heute von Alfred Roth
S. 120
Die heutige erfreuliche Situation des Schulbaus in der Schweiz ist das Ergebnis der sehr lebendigen und intensiven Entwicklung der letzten paar Jahre. Eine stattliche Reihe von zum Teil vorzüglichen Einzelleistungen verschiedenster Prägungen ist in dieser Zeit entstanden, und zahlreiche Projekte mit ebenso wertvollen neuen Vorschlägen sind in Ausführung oder Vorbereitung begriffen. Das deutet darauf hin, dass die Schulbauprogramme unserer kleineren und grösseren Gemeinden noch bei weitem nicht erfüllt sind. Man kann in der Schweiz von einer ausgesprochenen Schulbaufreudigkeit sprechen, die der Bevölkerung und den Behörden alle Ehre macht. Dabei sollen die da und dort immer noch vorhandenen oder spontan neu aufflakkernden Widerstände gegen die zeitgemässe Lösung des Problèmes durchaus nicht übersehen werden. Am Schulbau, dieser der Jugend geweihten schönen Gemeinschaftsaufgabe, lassen sich der Lebens- und Kulturwille und die soziale Gesinnung und Opferbereitschaft eines Volkes besonders deutlich erkennen, und in dieser Hinsicht ist es heute in der Schweiz — es darf ohne Überheblichkeit gesagt werden — recht gut bestellt! Man kann mit Genugtuung feststellen, dass die auf Jahre und Jahrzehnte zurückgreifende Pionierarbeit der dem Schulbau und der Jugendbildung seit jeher besonders zugeneigten Architekten, Pädagogen und Behördevertreter endlich zum Erfolg geführt hat. Verglichen mit dem volumenmässig viel wichtigeren Wohnungsbau, herrscht im Sektor Schulbau eine wesentlich lebendigere und klarere Auffassung, so dass man füglich unsere besten Schulhäuser zu den Spitzenleistungen der neueren Schweizer Architektur zählen darf. Dieser erfreuliche Zustand ist im Lande des grossen Pädagogen und Menschenfreundes Heinrich Pestalozzi in der Tat schon längst fällig gewesen! Es ist zu hoffen, dass gerade von seiten der Lehrer, die sich leider zum grossen Teil der Schulbaufrage gegenüber noch immer recht reserviert verhalten, eingedenk der Weisung ihres grossen Lehrmeisters vermehrter Anteil an dieser dem Pädagogen und dem Architekten zur gemeinsamen Lösung aufgetragenen Aufgabe genommen wird. Dass wir im Schulbau heute so weit gekommen sind, darf der lebendigen inneren Natur der Aufgabe insofern zugeschrieben werden, als sie die besten Kräfte unserer Architektenschaft und der jungen Architektengeneration mit offensichtlicher Begeisterung auf sich zu lenken vermag. Dies wiederum erklärt sich zu einem guten Teil aus der typisch schweizerischen Praxis der öffentlichen Wettbewerbe, die sich dadurch, dass sie neue Talente und neue Ideen zutage fördert, auf den Schulbau als sehr befruchtend
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Deutsche Zusammenfassungen ausgewirkt hat. Die allgemeine positive Entwicklung ist ferner darin zu erkennen, dass die Behörden von sich aus oder unter Zuziehung der Fachverbände BSA und SIA die Preisgerichte im allgemeinen so bestellen, dass eine Beurteilung der eingerichteten Projekte nach modernen Gesichtspunkten gewährleistet ist, was in früheren Zeiten sehr oft nicht der Fall war.
Nach der Feststellung der erfreulichen heutigen Situation unseres Schulbaus muss auch auf gewisse Schwächen und noch vorhandene Schwierigkeiten hingewiesen werden. Dazu gehören insbesondere die in einem Teil der Fachwelt verbreitete Tendenz der Veroberflächlichung und des Formalismus, d.h. die Vernachlässigung der primären pädagogischen und psychologischen Gesichtspunkte, Fragen, über die sich der Schreibende schon bei verschiedenen Gelegenheiten kritisch geäussert hat. Deshalb kann er sich in den nachfolgenden Darlegungen auf das eigentliche Thema, nämlich die verschiedenen Entwicklungsetappen der Schulbaufrage, konzentrieren, wobei es sich nur um eine kurze Charakterisierung des Wesentlichen handeln kann.
Vor und um 1900 Das Schulwesen ist bei uns in der Schweiz wie auch in anderen Ländern erst etwa seit etwas mehr als hundert Jahren zum Anliegen der Öffentlichkeit, der Gemeinden und Kantone, gemacht worden. Das Volksschulhaus ist daher eine verhältnismässig junge und neuartige Architekturaufgabe. Dass das 19. Jahrhundert mit seiner Stilimitation hiefür kaum grundsätzliche Lösungen hervorbringen konnte, überrascht nicht. Dennoch entwickelte sich gegen das Jahrhundertende ein Schulhaustyp besonderer Prägung. Er ist gekennzeichnet durch eine mittlere Treppenhalle mit je einem Klassenzimmer links und rechts, deren drei freiliegende Fassaden mit Fenstern versehen sind. Die im allgemeinen recht grossen Räume (bis 100 m2) erhalten Licht von drei Seiten, ausserdem ist die Querbelüftung auf einfachste Weise gewährleistet. Dieser Schulhaustyp, der in der Regel drei Geschosse, also sechs Klassenzimmer, aufweist, kann als früher Vorläufer des heute recht verbreiteten analogen Treppenhallenschulhauses, mit zweiseitig belichteten Klassenzimmern, bezeichnet werden. Dass in jener Zeit die städtebaulichen und landschaftlichen Gesichtspunkte nicht beachtet wurden, kann einer Zeit, welche die Repräsentation über die praktischen und psychologischen Belange stellte, nicht verargt werden, und daher auch nicht die Tatsache, dass sie die Schulbauten mit Vorliebe an öffentliche Plätze und wichtige Strassenzüge und nicht ins ruhige Grün stellte.
1900 bis 1930 Es ist die Periode der Schulkaserne mit schematischer Aufreihung einseitig belichteter, schmaler und längsgerichteter Klassenzimmer.
Der Hang zur Monumentalisierung wirkt weiter fort. Das starke Anwachsen der Bevölkerung und die damit verbundene Verdichtung der städtischen Wohnquartiere führt zu einer Überdimensionierung des Schulbaus.
Aus dieser Zeit stammen die speziellen Verordnungen für Schulbauten, in denen Format und Grösse der Klassenzimmer zur festen Norm erhoben werden (z.B. für Primarklassen: Breite 6,50 m., Länge 10.20 m.). Der um 1900 bereits vorhandene Typus des Treppenhallenschulhauses ist vergessen und findet keine Weiterentwicklung.
1930 bis 1939 Die tief eingreifenden Umwälzungen im künstlerischen und geistigen Schaffen der Zwanzigerjahre, insbesondere das die Architektur revolutionierende Bekenntnis zum Menschen, zur Vernunft, zur Natur und zur Technik führen auch im Schulbau zu einer grundlegenden Erneuerung. Die vor allem von Deutschland ausgehenden Bestrebungen zugunsten des Freiluftunterrichtes begünstigen die naturverbundene eingeschossige Pavillonschule, deren Vorbild England geliefert hat.
Um 1929 entsteht in Niederursel bei Frankfurt am Main die erste zweigeschossige Treppenhallenschule mit zweiseitig belichteten Klassenzimmern, eine unserem Schulhaustyp aus der Periode um 1900 verwandte Lösung.
1932 veranstaltet das Kunstgewerbemuseum unter der Leitung des damaligen Direktors A. Altherr eine Schulbauausstelung unter dem Titel “Das Kind und sein Schulhaus ”, in der die grundsätzlichen Aspekte zeitge-
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mässer Schulhausgestaltung auf eindrückliche Weise dargelegt werden. Architekt W. M. Moser hat diese Ausstellung zusammen mit einigen Werkbundkameraden und mit Seminardirektor Dr. Willi Schohaus und Prof. Dr.
W. von Gonzenbach aufgebaut. Ein Jahr darauf erscheint im Schweizer-Spiegel-Verlag, Zürich, unter demselben Titel das von den gleichen drei Autoren verfasste ausgezeichnete Büchlein. Ausstellung und Publikation haben wohl eine starke aufrüttelnde Wirkung, doch kommt es nur zu einer verhältnismässig geringen Ausstrahlung auf die praktische Verwirklichung der neuen Postulate, weil offenbar die äusseren Hemmnisse noch zu stark sind.
(Widerstände von Behörden, Lehrern, Architekten und Bevölkerung.) Immerhin erhält in dem Wettbewerb vom Jahre 1932 für ein neues Grosschulhaus in Altstetten das Projekt für eine Pavillonschule von Prof. Fr. Hess den ersten Preis; es wird aber bedauerlicherweise von der Ausführung ausgeschlossen. Im selben Wettbewerb schlägt der Schreibende, ohne jeden Erfola, eine zweigeschossige Schule nach dem Treonenhallenprinzip vor.
1934 wird in Lachen am Zürcher Obersee ein zweigeschossiges Schulhaus nach dem Treppenhallenprinzip verwirklicht. Es ist das erste Schulhaus dieser Art in der Schweiz. 1936/37 folgte ein zweites, ähnliches, nur besser durchgearbeitetes Beispiel, die Primarschule “ Buchholz ” in Zollikon (Architekten Kräher und Bosshard). 1938/39 wird endlich die erste Pavillonschule auf Schweizerboden gebaut, und zwar in Basel auf dem Bruderholz von Architekt BSA Hermann Baur. Nur wird leider die verheissungsvolle neue Entwicklung des Schweizerischen Schulbaus infolge der unter dem Einfluss von Nazideutschland überhandnehmenden reaktionären Architekturtendenz frühzeitig abgebrochen.
1939 bis 1950 Die Jahre des zweiten Weltkrieges führen zum Stillstand auf dem gesamten Gebiete des Bauens. Vielleicht gerade deshalb erwacht das Interesse für städtebauliche, planerische Fragen (1943 kommt es zur Gründung der Schweizerischen Vereinigung für Regionalund Landesplanung). Auf dem Sektor Schulbau tritt das Hochbauamt der Stadt Zürich mit dem damaligen Stadtbaumeister A. H.
Steiner hervor mit seinen Untersuchungen über die richtige Verteilung von Schulbauten im Wohnquartier und in den künftigen Grünzonen der Stadt. Es wird eine Differenzierung der Grösse der Schulhäuser vorgeschlagen (Kindergarten — Kleinschulhaus — Normalschulhaus — Grosschulhaus). Nur wenig später macht das Hochbauamt der Stadt Bern analoge Untersuchungen über die Verteilung von Kindergärten im Stadtgebiet.
1950 bis heute Bald nach Kriegsschluss setzt in der ganzen Schweiz eine bis auf den heutigen Tag anhaltende intensive allgemeine Bautätigkeit ein.
Im Sektor Schulbau herrscht in gedanklicher Hinsicht in den ersten Nachkriegsjahren zunächst noch grosse Unsicherheit; die reaktionäre Auffassung musste erst überwunden werden. In der Zeitschrift WERK, dem Bundesorgan des BSA, werden in regelmässigen Abständen die Grundfragen lebendiger Schulbaugestaltung an Hand von in- und ausländischen Beispielen und Bestrebungen erörtert.
1950 erscheint das vom Schreibenden verfasste dreisprachige Buch “ Das neue Schulhaus ” (Verlag Girsberger, Zürich). Im Herbst 1953 veranstaltet das Kunstgewerbemuseum der Stadt Zürich auf Anregung von Direktor J. Itten eine vom Schreibenden gestaltete Schulhaus-Ausstellung mit einer umfassenden in- und ausländischen Dokumentation und einer speziellen Abteilung über Freilufterziehung. In Verbindung mit der Ausstellung findet ein internationaler Kongress für Schulbaufragen statt, veranstaltet von der “ Internationalen Vereinigung für Freilufterziehung ” und der Stiftung “ Pro Juventute ”.
Die Ausstellung, die offensichtlich mit sehr günstigen Zeitumständen zusammenfällt, hat einen über Zürich bis ins Ausland hinausgreifenden Erfolg und findet lebhaftes Interesse bei Behörden, Architekten, Lehrern und im Publikum. Aus Anlass der Ausstellung veranstaltet das Hochbauamt der Stadt Zürich auf Anregung von Direktor Itten und dem Schreibenden einen eingeladenen Wettbewerb unter zwölf mit Schulfragen vertrauten Architektenfirmen, um Vorschläge für einen neuen Typ des Primarschulhauses zu gewinnen. Das
Programm verlangt als Novum zu jedem Klassenzimmer eine Bastelnische. Das zur Ausführung empfohlene Projekt ist das im Jahre 1956/57 ausgeführte Schulhaus “ Chriesiweg ” (Architekten Cramer, Jaray, Paillard).
Im selben Jahre wird die grosse Sekundarschulanlage “ Letzi ” von Architekt E. Gisel, ebenfalls in Zürich, ausgeführt, in der die zweiseitige Belichtung zur freien Orientierung der Klassentrakte ausgenützt ist.
Wenn Zürich die unverkennbare Vorrangstellung im neueren schweizerischen Schulbau für sich beanspruchen darf, so muss gerechterweise hervorgehoben werden, dass auch in anderen Städten und kleineren Orten sehr beachtenswerte Leistungen vollbracht worden sind. Sie im einzelnen hier aufzählen zu wollen, würde jedoch zu weit führen. Immerhin seien erwähnt das besonders schöne Landschulhaus “ Matt ” in Hergiswil (1952-54, Architekten W. Schaad und E. Jauch, Luzern) mit der hierzulande damals neuartigen Lösung der Belichtung durch ins Dach eingefügte Oberlichter, ferner das Schulhaus “ Wasgenring ” in Basel (1953-1955, Architekten B. und F. Haller), die verschiedenen kleineren und grösseren Schulbauten in Olten und Umgebung (Architekt BSA H. Frey) und die sich durch eine ausgesprochen intime Schulatmosphäre auszeichnende Anlage “Parc Geisendorf ” in Genf (Architekten G. Brera & P. Waltenspühl). Von den kleinen Kantonen darf das Glarnerland nicht übergangen werden, wo Architekt Hans Leuzingers Pavillonschulhaus von Niederurnen (1954) eine erfreuliche Fortsetzung in einer Reihe anderer Gemeinden gefunden hat. Vorzügliche neueste Beispiele sind: Die Schulanlage “ Riedhalde ” in Zürich (1957/1959, Arch.
W. Gross) mit dem neuartigen viergeschossigen Sekundar-Klassenturm, und die allerdings nicht zum Volksschulbau gehörende, in die prachtvolle Parklandschaft organisch komponierte zürcherische Kantonsschule “ Freudenberg ” (1957/1959, Arch. J. Schader).
Auf Grund der in den letzten Jahren entstandenen guten Beispiele sinnvoller lebendiger Schulhausgestaltung sollte die erspriessliche Weiterentwicklung gesichert sein. Nichtsdestoweniger gilt es mit der Ergründung des wahren und lebendigen Inhaltes der uns Architekten, Urbanisten und Pädagogen aufgetragenen Aufgabe unermüdlich fortzufahren und zu fordern, dass die Raumorganisation und die architektonische Atmosphäre über die abstrakte Form zu setzen sind.
Wohnen !
von Max Richter S. 130 Welche auch eine Wohnung sein mag (teuer, billig, klein oder gross, Einfamilien- oder Kollektivhaus), bleibt das Problem der inneren Ausstattung immer dasselbe, da die Menschen überall gleiche wesentliche Bedürfnisse haben (arbeiten, schlafen, essen, usw.). Sie brauchen Raum, Luft und Licht. Sie brauchen auch Ordnung, welche ohne Raum unmöglich ist.
So kommt zuerst die Frage des bei Tage und bei Nacht allernötigsten Raumes.
Nachts braucht man einen sehr beschränkten Raum (prinzipiell sollten ein bequemes Bett, ein gut orientiertes Fenster genügen, wäre das Schlafzimmergerät nicht so ungeheuer sperrig). Der “ sakrosankte Kombi ” besetzt den Platz! Es wäre doch einfacher, jede Wohnung mit geräumigen eingebauten Schränken zu versehen. Natürlich sind die Möbelhändler mit der Idee, die ihren Kunden übrigens nicht so gefällt, nicht einverstanden. Die Frage bleibt unerledigt.
Kinder brauchen ein grosses Zimmer, wo sie gemütlich schlafen, lernen und spielen könnten.
Für den Tag und für die ganze Familie: mehr Raum, immer mehr Raum, doch einen nicht übertriebenen Mietpreis. Da die Sache unmöglich ist, der Teuerung der Baugründe wegen, wird der Architekt gezwungen, Palliativmassregeln zu erfinden, z.B. ein Hausgerät mit vielfacher Verwendung (Klappbrette, umwandelbare Tische und Stühle), welches dem Mangel an Flächen vorläufig Vorbeugen würde.
Der Maler Luc Peire von Alberto Sartoris S. 136 1916 in Bruges geboren, ist Luc Peire ein an künstlerischer Tradition ergiebiger flämischer Maler. Sein gesamtes Werk, unmittelbare Übertragung der Gedanken, welche in seinem
Geiste umgewandelte Erscheinungen erwekken, führen zwischen Farbe, Form und Baustruktur einen gedrängten Dialog ein, welcher unvermeidlich zur Verurteilung konventioneller Ausschmückung führt.
Ein grosser, lyrischer Schwung beseelt Luc Peire. Der Kunst des Malers prägt dieser herrliche Einheit ein und begabt seine transzendente Allwelt mit Farbe und Form einer meisterhaften, um so ungemeineren Poesie, als alle ihre Akzente in eine einzige Forderung, die Entdeckung der neuen Malerkunst, resorbiert werden. “ Eine seltene Phosphoreszenz überdeckt die bescheidensten Sachen, gleich als Poesie Ausserordentliches der ordentlichen Dinge einfach wäre ” (Georges Linze). Die schöne Anmerkung ist mit sämtlichen Werken des Malers eng verwandt und veräussert vollkommen den Sinn einer höchst expressiven, persönlichen Kunst.
Luc Peire hat bei Gustav van de Woestijne und Constant Permeke studiert. Zu wiederholten Malen Stipendiat (1947, 1949, 1952), ist der Künstler viel gereist (Frankreich, Italien, Schweiz, Spanien, usw). Heute lebt er in Paris und auch in Knokke-sur-Mer (Belgien).
Jean Baier, Maler von Henri Stierlin S. 139 In einer Zeit, in der Exzentrizitäten, Farbenschmiererei, der Ausbruch subjektiver Revolten, den Begriff Malerei entstellen, sind die Werke Jean Baiers eine wahre Beruhigung und Erquickung. Kompromisslos und frei von jeder Beklemmung spiegelt seine Malerei die Kraft einer gesunden und anspruchsvollen Einstellung.
Baier lehnt den Zufall in jeder Form ab und seine Verneinung des Tachismus bedeutet nichts anderes als die Verneinung alles Unmenschlichen; er findet zurück zum authentischen Klassizismus. Die Ausgeglichenheit seiner Kompositionen beruht auf architektonischer Anordnung. Das Wort Struktur in Verbindung mit seinem Werke scheint daher eine natürliche Anwendung zu finden. Im Gegensatz zu der “ Materie ’’eines Mathieu, eines Tobey oder Wols strahlt die Kunst von Baier sauber und glatt wie ein Spiegel. Diese technische Vollkommenheit erklärt sich durch die frühere Tätigkeit des Künstlers als Präzisionsmechaniker für Prototypen. Das Arbeiten mit den modernsten technischen Mitteln hat Baier auch auf seine Malerei übertragen, die dadurch zum Sinnbild unserer heutigen industriellen Zeit wird. Sagt er doch selbst: “Ich möchte mit meinen Bildern die Rolls Royce der Malerei schaffen! ”.
Auf einen ersten flüchtigen Blick scheint es, als ob man Baier in die Reihen der geometrischen, abstrakten Maler wie van Doesburg, Vantongerloo oder Mondrian stellen könnte, aber die Ausdrucksweise von Baier ist dennoch verschieden und absolut persönlich. Er geht wohl in derselben Richtung, jedoch auf eigenen Wegen. Baier führt die Experimente des Bauhaus weiter, um unserer Zeit ihre eigentliche Bildsprache zu geben.
Hans Aeschbacher oder immerwährender Klassizismus von André Kuenzi S. 142 1906 in Zürich geboren, zeigt Hans Aeschbacher sehr früh Anlagen zur Zeichen- und Malerkunst. Doch erlernt er die Buchdruckerkunst, welche er überhaupt nie ausüben wird.
1926 bleibt Aeschbacher einige Zeit in Rom.
Die grosse alte Stadt fasziniert ihn. Er zeichnet, malt und weiht sich in griechische Skulptur ein. Er entdeckt die Schönheiten des Steines, übt sich in direktem Behauen, eine Technik die ihm seine bedeutendsten Werke zu realisieren erlauben wird. Dreimal Stipendiat (Eidgenössische Kunststiftung) bekommt Aeschbacher noch den KonradFerdinand Meyer Preis. Die Kunst von Aeschbacher ist Ordnung und Klarheit, Gleichgewicht und Mass. Der Künstler legt den Akzent auf die Formbeständigkeit. Doch vergisst er nie, dass ein Werk eine Konstruktion der Klugheit und der Empfindungskraft sein solle. Von ihm hat Michel Seuphor gesagt: “ In der heutigen Skulptur ist Aeschbacher der Richtige ”. Tatsächlich bleibt Aeschbacher von aller Mode, von aller Schwärmerei vollkommen entfernt. Ganz inaktuell sind die Erfordernisse seines Werkes, aber fest in einem Bestand gewurzelt, welcher dem Zeitlauf entkommt.