Lothar Götz, Theo Ambos, Stuttgart

Die Situation des Architekten in der heutigen Gesellschaft Die Frage nach der Situation des Architekten in der heutigen Gesellschaft ist die Frage nach den diese Situation bestimmenden Koordinaten und Faktoren. Es wäre vermessen, den Versuch zu unternehmen, innerhalb des hier gesteckten Rahmens alle diese Bestimmungskoordinaten aufzeigen und analysieren zu wollen. Dies müsste die Arbeit eines Teams sein, bestehend aus Fachleuten der verschiedensten Richtungen, sie kann unmöglich von einer Seite geleistet werden. Wenn man sich einmal überlegt, aus welchen Fachbereichen solche Fachleute kommen müssten, kommt man sehr bald darauf, in welch vielfältiger Weise der Beruf des Architekten verknüpft ist mit, man kann sagen, fast allen Bereichen menschlichen Lebens. Architektur nimmt an den meisten menschlichen Tätigkeiten teil. Es kann also nur der Versuch unternommen werden, einige aus unserer Sicht gewichtige Orientierungspunkte anzusprechen, die auf der Suche nach dem Ort und dem Rang, die unsere heutige Gesellschaft dem Architekten einräumt, vielleicht so etwas wie Wegweiser sein könnten. Die Rangfolge soll dabei bestimmt sein durch den Grad des Ver52

H wird man vielleicht

eines Tages ohne Architekten bauen"

mögens, unserer Gesellschaft optimal dienlich zu sein, d. h. in welchem Mass es gelingt, die von der Gesellschaft gestellten Aufgaben zu erfüllen. Die Aufgabe für den Architekten impliziert dabei die Aufgabenstellung selbst, d. h., er muss an der Formulierung massgebend beteiligt sein.

Wie erfüllt nun der heutige Architekt die ihm gestellten Aufgaben? Wir möchten sagen, er erfüllt sie nur mangelhaft und kann sie auch nur mangelhaft erfüllen, zum Teil erkennt und kennt er sie nicht einmal.

Die Ursachen sind vielfältig und beginnen schon bei der Ausbildung, die bei den Studenten eine weltweite Unzufriedenheit hervorgerufen hat. Diese Unzufriedenheit umfasst so ziemlich alle Aspekte der Ausbildung, angefangen bei der Qualifikation zum Studium und der fachlichen Kenntnisse bis zur Erweckung der Verpflichtungen, die er gegenüber der Gesellschaft, und zwar sowohl als Bürger wie auch als Vertreter eines bestimmten Berufes, hat.

Nicht selten spürt man bei den heutigen Architekten ein gewisses Desinteresse an allem, was irgendwie mit Politik zusammenhängt. Man kritisiert zwar meist intern und in Fachzeitschriften politische Entscheidungen, findet sich aber sehr selten dazu bereit, durch aktive Mitwirkung selbst die Entscheidungen zu beeinflussen, obwohl oft die ureigensten Berufsinteressen aufs tiefste berührt werden. Wenn es dem Architekten ernst darum ist, an der Gestaltung neuer Lebensformen für unsere Gesellschaft mitzuarbeiten, muss er seine passive Flaltung zur Politik aufgeben. Dies bedeutet aktive Teilnahme am politischen Geschehen, um nicht nur immer innerhalb vorgegebener Bahnen agieren zu können, sondern um die Weichen mitzustellen und um sich die Basis zu geben, für eine von ihm akzeptierte und mitgestaltete Gesellschaft die maximalen Umweltbedingungen zu schaffen.

A. Arndt sagte in seinem berühmt gewordenen Vortrag «Die Demokratie als Bauherr», den er anlässlich der Berliner Bauwochen 1960 in der Akademie der Künste gehalten hat, folgendes: Ursprünglich war die Lehre vom Bauen keine selbständige Disziplin, sondern das Wissen um das Bauen hat sich in die universal verstandene Staatswissenschaft im Sinne eines Wissens um das Politische eingegliedert.

Die Möglichkeiten, die sich daraus ergeben, dass der Architekt innerhalb einer demokratischen Gesellschaft auch gleichzeitig Bauherr sein kann (jedenfalls was das öffentliche Bauen betrifft), werden aus den bereits angeführten Gründen nicht genützt. Man steht von seiten der Architekten dieser Situation etwas hilflos gegenüber und hat noch kein richtiges Verhältnis zur «Demokratie als Bauherr» gefunden. Wie ja unsere Gesellschaft - und hier sprechen wir von der Bundesrepublik Deutschland ganz allgemein - noch nicht so recht die Demokratie in ihr Bewusstsein aufgenommen hat.

Passivität ist ganz allgemein eine Krankheit, an der unsere Gesellschaft leidet.

Die Menschen lassen sich vom Fernsehen berieseln, sie lassen Sportveranstaltungen über sich ergehen usw. Es wird Aufgabe unserer gesamten Gesellschaft sein, die Menschen wieder zu einem lebendigen Gemeinschaftsleben hinzuführen. Der Architekt könnte dabei einer der massgebenden Helfer sein. Zurzeit ist er es nicht.

Der Schwerpunkt der Arbeit des heutigen Architekten liegt vorwiegend auf dem Befriedigen der Bedürfnisse nach Luxus, nach äusserer Demonstration von Eitelkeit, und zwar oft sowohl seiner eigenen als auch die eines Bauherrn, der in vielen Fällen von einer einseitigen Geschäftsmentalität geprägt ist. Die Architekten sollen und müssen sich endlich überlegen und klar darüber werden, was eigentlich ihre Mission innerhalb einer Gesellschaft sein kann und muss. Sie haben dabei eine

geradezu phantastische Kollektion von Hilfsmitteln zur Hand, wie sie noch zu keiner Zeit zur Verfügung standen. Ich meine damit die Möglichkeiten, die uns die heutige Wissenschaft und Technik bietet.

Es wird von entscheidender Bedeutung sein für den Beruf des Architekten, ob er in der Lage sein wird, eine exakte Analyse der Probleme zu stellen, was die Kenntnis von Mensch und Gesellschaft voraussetzt.

Es wird ebenso darauf ankommen, ob er in seiner Ausbildung anstelle von Belastung mit mehr oder weniger willkürlich ausgesuchtem Faktenwissen der historischen und aktuellen Forschung das für den einzelnen ohnehin unmöglich ist zu beherrschen - zur methodischen Einsicht gelangt, die es ihm möglich macht, zu wirksamen Lösungen zu kommen. Die Situation des Architekten in der Gesellschaft wird davon abhängig sein, wie es gelingen wird, die vielseitigen und zum Teil ganz neuen Probleme unserer Zeit in einem neu zu determinierenden Berufsbild zu integrieren, und zwar mit Hilfe einer präzisen Terminologie, deren Fehlen nicht den geringsten Anteil zu unserer heutigen verworrenen Architektursituation beigetragen hat.

Walter Gropius hat es in seinem Buch «Apollo in der Demokratie» so ausgedrückt : «Es geht um die Anpassung eines romantisch orientierten, eifersüchtig individualisierten Berufsstandes an die Realitäten des 20. Jahrhunderts.» Falls die Anpassung gelingt, wird der Architekt innerhalb unserer Gesellschaft bestimmt einen sehr hohen Rang einnehmen. Wenn es jedoch nicht gelingen sollte und die Architekten sich weiterhin in vorwiegend formalen Fragen - die oft zu Glaubensfragen werden - erschöpfen, wird man vielleicht eines Tages ohne Architekten bauen.

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